11/11/2007

Tradition und Angst

Seit nunmehr sieben vollen Wochen weile ich in England und es wird Zeit erste kulturstudienmotivierte Beobachtungen festzuhalten. Und ich beginne mit ganz unbedarften Verallgemeinerungen. Dieses Land lebt von Mythen. Unverarbeiteter Vergangenheit. Symbollastiger Traditionsversessenheit. Liegt es nur an meiner selektiven Wahrnehmung als Semi-Tourist, oder neigt man hier zu einer recht großen Naivität was die Vergangenheit - und Gegenwart anbelangt? Ist man durch die eigene Geschichtserziehung als 'Deutsche’ empfindlicher im Bezug auf gesellschaftliche Vergangenheitsbewältigung ? Ein paar Beispiele:


Als Hintergrundrauschen nahm ich heute morgen die Übertragung der Lord Mayor’s Show wahr. Ich könnte mich an dieser Stelle schon ausufernd über die Traditionslastigkeit dieses Straßenumzuges und der Institution des Lord Mayors als solche auslassen und in dem Zusammenhang auch gleich noch über London und dessen Rolle in der Aufrechterhaltung nationenschaffender Mythen durch seine Vielzahl an (Kriegs)-Denkmälern. Aber was mir bei der Parade besonders aufgefallen ist, war die selbstverständliche Militärrepräsentation. Verschieden Regimenter zogen ebenso durch die Straßen wie ein Panzer aus dem ersten Weltkrieg, als Repräsentant des Tank Museums. Und am Tag vor dem Remembrance Day wurde eben auch besonders auf die Royal British Legion und ihren Wagen hingewiesen. Deren künstliche Mohnblumen schmücken momentan die Revers selbst vermeintlich kritischer Geister. Es ist selbstverständlich für einen Englischdozenten über Postkolonialismus zu reden und dabei eine Poppy am Pullover zu haben, Symbol zur Erinnerung an gefallene Soldaten. Erster Weltkrieg wie aktueller Irakkrieg. Und wiederum im Fernsehen wurde dazu gemahnt, dass es unsere Pflicht ist an jene zu denken, die beim Erfüllen ihrer Pflicht gefallen sind. Diese Poppies sind selbst bei sehr viel gutem Willen nicht mal implizit als pazifistisch zu lesen.


Für mich ist das alles unfassbar. Aber hier ist das Militär im Alltag eine Selbstverständlichkeit und die artikulierte Versicherung, dass Soldaten heute wie damals 'unsere' Freiheit verteidigen, schafft erst ein Klima, dass diese Gesellschaft nach wie vor größtenteils kritiklos Kriege zur Durchsetzung der eigenen Hegemonialansprüchen akzeptiert. Dazu passt auch, dass es momentan eine Kampagne gibt, gefallene Soldaten auf Briefmarken zu bannen.


Genauso verstört mich die momentan wieder hochgekochte Berichterstattung über den Fall de Menezes. Diskutiert wird, ob Ian Blair (Chef des Metropolitan Police Service) aufgrund der vielen Fehler bei der Operation nun endlich zurücktreten soll. Dabei wird viel stärker diskutiert, dass die öffentliche Sicherheit in Gefahr war, weil ein potentieller Attentäter eine U-Bahnstation in die Luft hätte jagen können und nicht, dass ein junger Mann aufgrund seines Aussehens durch die Staatsgewalt hingerichtet wurde.


Es ist nur logisch, dass dieses Land mit der selben Selbstverständlichkeit im Krieg ist, wie es in Angst lebt. Und so werden Menschen auf Grundlage des Terrorism Act wegen ihrer Ansichten verurteilt werden. Aber wenn man sich auch selbst 'lyrical terrorist' nennt...


Aber zurück zum alltäglichen Wahnsinn der anderen Vergangenheitserfahrung. Ist es der Tatsache geschuldet, dass ich in deutschen Staaten aufgewachsen bin, dass ich mich einer Diskussion mit Faschisten aus Prinzip verweigern würde, weil Faschismus nicht diskutabel ist? Aber die British National Party (BNP) soll nach Willen der Debating Society auf den Campus geladen werden. Wie kann es sein, dass die Debattierwilligen aus ihrem Spieltrieb heraus, wie aus der Freude an dem so griffigen Argument, man könnte die BNP ein für alle mal als dumm entlarven, diese salonfähig machen und Studenten auf dem Campus in Gefahr bringen wollen? Aber eben alles mit Poppy am Revers.